Archive for the 'Schwänke aus der Jugend' Category

Meine kurze Karriere als Werber (noch so’n Ü30-Witz)

Ungefähr zu der Zeit, als mein jüngster Bruder gerade Abitur machte, führte der Verkehrsverbund Rhein Ruhr eine neue Monatskarte für Schüler und Auszubildende ein. Um der jugendlichen Zielgruppe gerecht zu werden, nannte man das neue Produkt „SchokoTicket“.

Sofort hatte ich einen irre komischen, wenn auch retro-angehauchten Fernsehspot vor dem geistigen Auge, in dem der Inhaber eines SchokoTickets zu einem Kontrolleur im Bus sagt: „Django zahlt nicht, Django hat SchokoTicket.“ Ein B-R-Ü-L-L-E-R.

Mit nur einem Problem: Die Focus Group (also mein Bruder, der altersmäßig voll in der Zielgruppe lag) kannte den Originalwitz nicht. Ich sah ihn mit erwartungsvoll großen Augen an, er starrte leer zurück.

Das war meine kurze Karriere als freier Werbeschaffender. Schwarze Rollkragenpullis habe ich zu der Zeit trotzdem weiter gerne getragen.

Mein ewiger Alptraum

Irgendwann, wenn ich vor dem jüngsten Gericht stehen werde, oder vor sonst einer Instanz, die darüber entscheidet, ob ich in meinem Leben zu etwas nütze war, werde ich sicherlich den Vorwurf zu hören bekommen, dass ich derjenige war, der in geradezu Orwell’scher Manier Personen verschwinden ließ, zu Unpersonen erklärte, jede Erinnerung tilgte. Einfach weg. Dann werde ich mich vor innerem Schmerz auf den Boden werfen, um Gnade flehen und schwach argumentieren, dass es wirklich nicht fein ist, diese schon längst verjährte Episode wieder aufzuwärmen, zumal ich deswegen über Jahre ein schlechtes Gewissen hatte (und habe).

Ich habe vor 17 Jahren die Fotos einiger Mitschüler in der Abi-Zeitung vergessen.

Mann, was war das viel Arbeit damals. Etwas leichtfertig hatte ich mich bereit erklärt, neben der redaktionellen Leitung auch noch die technische Produktion zu übernehmen. Ich kannte mich ja mit Computern gut aus, wie es damals hieß. Das war zu einer Zeit, in der technische Versiertheit auch für inhaltliches Können stand. Wer mit einer Textverarbeitung umgehen konnte, war prädestiniert, auch die Texte zu schreiben, egal ob guter Autor oder nicht. Jedenfalls hatte ich damals Spaß an dieser Sache und außerdem jemanden in der Hinterhand, der dabei helfen konnte. Das sollte mir die Gelegenheit geben, die Freundschaft zur D. wieder aufleben zu lassen, die etwas eingeschlafen war, und vielleicht würde ich an dem einen Nachmittag, den wir zusammen an der Zeitung arbeiten würden, auch ihr Herz für mich entflammen lassen. Im Nachhinein betrachtet eine komische Vorstellung, sie dadurch gewinnen zu wollen, dass ich ihr Arbeit aufhalste, als ob sie in ihrer Ausbildung in der Werbeagentur nicht schon genug Arbeit hatte.

Aus dem einen Nachmittag wurde eine knappe Woche, die wir vor diesem seltsamen Rechner mit diesem Apfel drauf, mit dem großen Monitor, dem Scanner, dem Laserdrucker und dem unglaublichen high-tech Syquest-Wechselplattenlaufwerk saßen. Und saßen. Und saßen. Bis wir nicht mehr gerade gucken konnten vor Müdigkeit.

In einem dieser Momente geschah es, dass der entscheidende Schritt in der — wie ich heute sage — Qualitätssicherung fehlte: Die Probe, ob alle eingescannten Fotos auch in der Zeitung auftauchten. Taten. Sie. Nicht. Vier fehlten.

Vier Gesichter waren lang, als die Zeitung am Abend der Vergabe der Abiturzeugnisse verkauft wurde und die Mitschüler eifrig blätterten, um zu sehen, auf welcher Seite sie abgebildet waren. Ich hatte sie einfach vergessen — obwohl in der Zeitung noch Platz war und wir eine Seite mit Quatsch gefüllt hatten.

Leute, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie ich damals gelitten habe. So zerfressen vor Schuld war ich, dass ich unmittelbar nach den Feierlichkeiten ein Einlegeblatt zur Zeitung mit den Fotos erstellt und auf eigene Kosten an alle Mitschüler versandt habe.

Noch Jahre danach kriegte ich Schweißausbrüche, wenn ich jemanden aus dem Jahrgang auf der Straße traf und meine erste Überlegung war: Auf welcher Seite ist das Foto?

Mittlerweile ist ein wenig Gras über die Sache gewachsen, ich habe meinen Frieden mit der Welt gefunden, sodass ich darüber schreiben kann. Doch spätestens, wenn in drei Jahren das zwanzigjährige Abiturjubiläum ins Haus steht und ich aus dem Keller der Mutter den Karton mit den Restexemplaren fischen werde, werde ich sehen, dass ich keine Einlegeblätter mit den verlorenen Fotos mehr habe. Und ich werde wieder Schuldgefühle haben. Und ich hoffe, dass die vier Vergessenen Gnade walten lassen.

Mein 9. November 1989

Es war der 9. November 1989, an dem mir der hier schon häufiger zitierte Weltgeist mir mal so richtig die Zunge rausstreckte und mir zeigte, dass ich nicht mit dem Ohr am Puls der Zeit lebte.

Am 9.11.89 machte der Informatik-Grundkurs einen Studienfahrt nach Trier, um dort nach dem Besuch einer Mathematik-Vorlesung an einer Weinprobe teilzunehmen. Mir stand der Sinn nicht nach Wein, viel lieber wollte ich mir das Karl-Marx-Haus in der Trierer Innenstadt ansehen, befand ich mich doch — gerade volljährig geworden — inmitten meiner salonsozialistischen Phase.

Besonders stolz war ich auf das an diesem Tag erworbene kommunistische Manifest: Eine typographisch sehr schöne Aufmachung: der Text in zwei Spalten gesetzt und einige Buchstaben so fett gedruckt, dass aus der Entfernung die Köpfe von Marx und Engels aus dem Text hervortraten.

Als ich abends nach Hause kam, saß mein Vater vor dem Fernseher, schaute Nachrichten. In diesem Moment wurde mir schlagartig klar, dass ich beim Kauf des Posters einen fetten Rabatt hätte aushandeln sollen, von wegen Auslaufmodell und so.

Wiedergesehen. Nach langer Zeit.

Vor ein paar Tagen schrieb ich über mein Unbehagen über die Oberflächlichkeit beim Ehemaligentreffen. Bin in den letzten Tagen zum Glück auch eines besseren belehrt worden:

Samstag abend traf ich auf dem Kiefernstraßenfest den H. Wir beide waren in der fünften und sechsten Klasse dicke Freunde. H. war ein Jahr älter, aber in meiner Klasse. Er war saucool, hörte mit zwölf schon Frank Zappa, während ich mich meine musikalische Früherfahrung mit der Neuen Deutschen Welle machte. H. war dabei, als ich mich das erste Mal jemanden geprügelt habe (einem Bully aus seiner Nachbarschaft die Nase blutig geschlagen) und das erste Mal einen Fisch geangelt habe (habe mich vermutlich mehr erschreckt als das arme Rotauge am Haken und wusste überhaupt nicht, was ich nun mit dem Fang tun sollte. Ich wurde kein berühmter Angler).

Dann blieb H. sitzen, verließ ein paar Monate später die Schule und ich verlor ihn aus den Augen. Zwar habe ich ihn nicht mehr gesehen, aber über die eine oder andere Ecke im Freundeskreis hörte ich immer mal wieder von ihm. Doch gesehen habe ich ihn über zwanzig Jahre nicht. Bis Samstag. Da sagte die Freundin zu mir: Oh, schau mal, da drüben sitzt der H. und verkauft sein Curry. Bin zu ihm gegangen, wollte mal schauen, ob er mich erkennt. Hat er. Und obwohl wir uns so lange nicht gesehen haben, komplett unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen haben, war es eine traumhaft schöne Unterhaltung. Ist einiges an Erinnerungen hoch gekommen, Dinge die ich vergessen hatte, die ihm im Gedächtnis geblieben sind und umgekehrt.

Ebenso heute abend: Der A., mit dem ich ebenfalls ein paar Jahre intensiv befreundet war und der einfach so von der Bildfäche verschwand, meldete sich via Xing bei mir. Ich war zuerst unsicher, als er mich vor ein paar Tagen anschrieb, ob ich ihn wirklich treffen wollte. Haben wir aber doch gemacht, und es war klasse. Ruhiger ist er geworden, mit Frau und Kind und Position im mittleren Management. Immer noch ein scharfer Geist, aber die intellektuelle Arroganz, die ich damals faszinierend fand — die aber bestimmt eine Menge Leute abgeschreckt hat — hat er hinter sich gelassen. Zufrieden ist er, aber nicht selbstgerecht. Ich hoffe, es dauert nicht nochmal zwölf Jahre, bis wir uns das nächste Mal sehen.

Piep-Piep (Zivildienst V)

Eine der liebsten und skurrilsten Personen, die ich während des Zivildienstes kennengelernt habe, war Frau M. Sie lebte alleinstehend in einer größeren Wohnung in der Nähe der Dienststelle in Düsseldorf-Flingern. Frau M. wurde ab und an von den Schwestern der Sozialstation betreut, kam aber im allgemeinen allein ganz gut zurecht. Dennoch beauftragte man mich, einmal die Woche bei Frau M. zum Einkaufen vorbeizufahren, da den Kolleginnen Frau M. nicht ganz geheuer war.

Frau M. lebte ohne Strom und Heizung. Nicht, weil sie sich diese Dinge nicht hätte leisten können, sondern, weil sie auch ohne ganz glücklich war. Sie war zugegebenermaßen etwas exzentrisch, wie sie mit schlohweißem Haar und wenig Zähnen — aber immer im Mantel — in ihrer Wohnung herumlief und regelmäßig im Schülerduden Mathematik schmökerte.

Ich war ganz gerne bei ihr, nur leider — das war wirklich unangenehm — roch es in der Wohnung beißend nach alter Frau und nach Kerzenwachs. Weder Frau noch Wohnung machten einen verwahrlosten Eindruck. Der Geruch nach Kerzenwachs rührte aus der Küche, wo Frau M. im Spülbecken eine beachtliche Menge Kerzen aufgebaut hatte, auf denen sie ihr Essen zubereitete. Dass sie bei den Temperaturen im Winter 1991/92 nicht ausführlich lüftete, war aus ihrer Sicht auch verständlich.

Es dauerte ein paar Wochen, bis ich merkte, dass die Frau gar nicht so irre war, wie alle meinten. Ich ging normale Dinge für sie einkaufen. OK, sie hatte einen hohen Konsum an Kerzen und Graupen, aber Rätselzeitschriften und das „Echo der Frau“ habe ich für andere Damen auch gekauft. Wie sie die Graupen auf den Kerzen weichgekocht gekriegt hat, war mir ein Rätsel.

Überrascht hat sie mich zu Ostern 1992, als sie mir ein Osterküken schenkte. Eins aus Plastik, mit plüschigem, gelben Fell. Unter den Füßen hatte es zwei Metallkontakte. Berührte man beide, schloss sich eine Stromkreis und das Küken machte Piep-Piep Geräusche. Sie freute sich wie Bolle darüber und ich war tief gerührt. Dieser Kontrast: Eine Frau, die ohne Strom lebte, aber sich diebisch über ein elektronisches Spielzeug freute. Herrlich.

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Piep-Piep lebte ein paar Monate in der Brusttasche meiner Jeansjacke. Irgendwann wanderte es in die Kiste mit den Erinnerungsschätzen und in Mutters Keller. Beim mütterlichen Umzug im Mai tauchte es wieder auf: Unverändert gelb, das blaue Schleifchen um den Hals intakt und die Batterien gingen auch nach 15 Jahren noch. Es war ein herzliches Wiedersehen.

Ich stehe nicht auf ältere Frauen (Zivildienst IV)

Zweimal war ich zum Fensterputzen bei einer älteren Dame, die sich den Arm gebrochen hatte. Als sie wieder gesund war und meine Dienste nicht mehr benötigte, rief sie in der Dienststelle an:

Der Alexander braucht nicht mehr zu kommen, ich mache es mir wieder selbst.

An diesem Tag hatte ich eine Menge zu erklären.

So war das mit den Schreibmaschinen wirklich

Offenbar hat die Schreibmaschinensammelei meines Vaters die Familie mehr beeindruckt, als ich es vermutet habe. Neben dem Kommentar meines Bruder zu dieser Episode schickte mir mein Vater selbst seine Sicht auf diese Zeit, die ich hier gerne als Gastbeitrag veröffentliche.

Also Jungs, das mit den Schreibmaschinen ist ja noch viel komplizierter als Ihr in Erinnerung habt. Eigentlich hat die Sammelei damit angefangen, ohne dass ich es wusste, als ich in einem Schrank eine vergessene Adler 7 fand, mit voll erhaltener Goldschrift. Die war schön. Und deshalb habe ich sie mir mit einem Haken wie ein Bild an die Wand gehängt. Es sah nur einfach schön aus, viele Jahre lang.

Dann kam der Selbstmord meiner Schwester und ich fühlte mich daran schuld. Ich weiß genau, dass ich damals anfing, das Ding zu putzen und zu reparieren. Dann sah ich auf einem Trödel eine Mignon, die war auch soooo schön, und auch zu reparieren. Aber zu teuer. Eure Mutter hat sie dann heimlich gekauft und mir geschenkt. Jetzt hatte ich zwei, war Sammler und fand immer mehr von diesen schönen alten Dingern (eine repräsentative Auswahl findet Ihr in den Auktionskatalogen unter www.breker.com), wozu natürlich bald die Bekanntschaft mit anderen Sammlern kam, woraus ein Verein wurde, mit Treffen und Zeitschrift, halt die deutsche Geselligkeit. Sammeln und Reparieren = Wiederherstellen!!! war Ausweg aus der Lebenskrise nach Schwesters Tod. (Alle Sammler haben einen Bruch im Leben und versuchen, durch die Sammelei wieder Sinn und Ordnung zu erzeugen).

Zuerst habe ich wie alle Anfänger auf die Quantität gesetzt, da ist Eure Erinnerung richtig. Bald standen 150 oder 200 rum, im Keller, in meinem Zimmer (nicht: im Wohnzimmer oder in der Küche! Und auch nicht in den Kinderzimmern, yes); und dazu natürlich unten im Bad, aber das
wurde sonst ja nicht gebraucht sondern war Werkstatt. Okay, im Laufe der Zeit habe ich mich von der Quantität hin zur Qualität verändert, und ab Mitte der 80er hatte ich nur noch ca. 50 Maschinen (vor allem von Jean-Pierre auf dem Pariser Trödel), die aber z. T. weltweit einmalig waren, weshalb das auch eine echt wertvolle Sammlung war. Als ich dann Ende der 80er die Habil geschafft und die Professur in Freiburg erhalten hatte und damit die Lebenskrise zu Ende gehen konnte, hörte das Sammeln und Reparieren auf, auch weil die wirklich seltenen Maschinen inzwischen zu teuer wurden. Was mich interessierte, war unter 10.000 DM nicht zu haben und die Trödel waren (auch in Paris) leergefegt. Ich habe dann alles auf einmal an einen Sammler verkauft, der eigentlich nur zwei Maschinen wollte (bzw. unbedingt haben musste). Alles oder nix, sonst wäre es traumatisch geworden.

Also, wenn ich so Eure Erinnerung lese, sehe ich erst, dass Euch die Dinger irgendwie bedrückt haben. Aber ich hab versucht, Euch nicht damit zuzumauern und vergesst nicht: nie hatte Euer Papa so viel Knete inne Tasche wie damals. Sammlergeschäfte gehen bar und zumindest die
die 3 Kleinen wussten genau, wie man es schaffen konnte, davon etwas abzubekommen (Alexander war zu diesem Zeitpunkt ja schon ausgezogen).

Danke sehr, Papi. Bedrückt hat mich die Sammelei keineswegs, mir ist ja klar, dass wir alle sehr davon profitiert haben. Es ist aber ein komisches Gefühl, auf einem Trödelmarkt oder sonstwo eine alte Schreibmaschine zu sehen und dabei nicht nur zu denken: „Oh, eine alte Schreibmaschine“ sondern solche Gedanken zu haben wie: „Ach, eine Adler 7. Das ist ja nun wirklich keine besonders alte Schreibmaschine. Da habe ich im Leben schon ganze andere gesehen. Weck mich, wenn da eine ‚La Miniature‘ steht“.

Außerdem kann ich nicht ganz verhehlen, dass ich die Geräte auch sehr ästhetisch finde. Wenn ich ab und an mal ein besonders schönes Exemplar zu Gesicht bekomme, überlege ich manchmal, die Schreibmaschine zu kaufen, als Deko für das Wohn- oder Arbeitszimmer. Andererseits weiß ich genau, wo das hinführen kann und dann gehe ich ganz schnell weiter.

Übrigens: Ich schätze, über den letztes Satz Deiner Geschichte müssen wir bei Gelegenheit nochmal sprechen… :-)

Für Frau J. war ich der Untergang des Abendlandes (Zivildienst III)

Eine weitere Klientin, mit der ich beim Zivildienst auf keinen grünen Zweig gekommen bin, war Frau J.

Für Frau J. bin ich einmal die Woche einkaufen gegangen. An sich war das kein besonders schweres Unterfangen, wenn da nicht ihre herrischen Marotten gewesen wären („Alexander, können Sie nicht mal ein wenig früher kommen, wenn Sie erst um 15 Uhr da sind, dann gibt es so häufig nichts mehr zu kaufen.“, „Alexander, haben Sie auch verschiedene Schwarzbrote gedrückt, um das frischeste zu finden?“). Am schlimmsten war allerdings ihr absurd kompliziertes Verfahren beim Getränkekauf, das sie sich ausgedacht hat, um den Einkauf deutlich zu vereinfachen.

Das Verfahren ging so: Beim Getränkekauf (1 Kasten Wasser) sollte der leere Kasten nicht zurückgegeben werden. Lediglich die leeren Flaschen durfte ich zurückgeben, ich sollte den alten Kasten mit neuen Flaschen auffüllen. Da bei diesem Verfahren statt 6,60 DM nur 3,60 DM ein- und ausgebucht wurden („Die 3 Mark für den Kasten müssen ja nicht auftauchen.“), war es in ihren Augen wesentlich einfacher. Die Realität gestaltete sich anders: Im Supermarkt hatte keiner der Verkäufer an der Kasse Verständnis für solche Sonderlocken. Mit schöner Regelmäßigkeit tauchten die 6,60 DM auf dem Kassenzettel auf. Frau J., die Woche für Woche den Einkaufszettel mit den Zwischensummen versah und hinterher mit dem Kassenzettel verglich, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Warum ich das alles so kompliziert machen müsse?

Im Ergebnis war es ein Teufelskreis: Sie wurde immer verzweifelter ob meiner Unfähigkeit, einen einfachen Einkauf nach Ihren Vorstellungen durchzuführen; ich wurde immer unsicherer und verrechnete mich immer häufiger. Es war deutlich: Sie nahm mich nicht für voll, hielt mich für minderbemittelt und nicht in der Lage, einfache Rechnungen durchzuführen. Irgendwann kriegte sie mehr Wechselgeld zurück, als sie vorausberechnet hatte, was sie mir als Fehler vorhielt. Das war der Tag, an dem wir uns anschrien und sie mir sagte, dass ich nicht mehr wiederzukommen brauchte. Ich war nicht unglücklich darüber, aber meine Chefin sah das anders und nach einer Woche Pause tauchte ich wieder bei Frau J. auf.

An meinem letzten Tag bei ihr erkundigte sich Frau J. zum Abschied, was ich denn in Zukunft machen wollte:

Frau J.: Und, Alexander, was machen Sie nach dem Zivildienst? Gehen Sie wieder zur Schule?
Ich: Och, Frau J., wissen Sie, das brauche ich nicht. Ich habe mein Abitur schon. Mit einem Schnitt im Einserbereich ein gar nicht so schlechtes. Ich gehe nächstes Jahr zur Uni.

Das konnte Frau J. nicht glauben und saß mit offenem Mund da. Dass eine solch ausgemachte Nulpe wie ich Abitur haben sollte? Für Frau J. war an diesem Tag im November 1992 der Pisa-Schock vorweggenommen.

Eine Redensart, die ich erst spät verstanden habe

Wenn jemand im Umgang mit der Tastatur nicht sehr firm ist und jede Taste einzeln suchen muss, spricht man scherzhaft vom „Adler-Suchsystem“, in Anlehnung an den Raubvogel, der über der Tastatur kreist und zack hinabstößt, um die Beute zu erlegen Taste zu drücken. Aber wieso erkläre ich das eigentlich? Außer mir weiß ja sowieso jeder, wie diese Metapher zu verstehen ist. Nur ich nicht. Zumindest habe ich erst vor einigen Monaten kapiert, was gemeint ist. Und das kommt so:

Ende der Siebziger Jahre begann mein Vater damit, alte Schreibmaschinen zu sammeln. Was am Anfang noch eine geringe Anzahl von mehr oder weniger hübsch restaurierten Büromaschinen war, wurde binnen weniger Jahre zu einer sehr ansehnlichen und vor allem großen Sammlung.

Ist schon toll, was man als Kind alles als gegeben hinnimmt, ohne sich Gedanken drüber zu machen. Natürlich war es für mich nichts Außergewöhnliches, dass sich außer im Keller auch in immer mehr Wohnräumen des Hauses jede Menge alter Schreib-, Rechen- und sonstiger Büromaschinen ansammelten. Es waren wirklich einige außergewöhnlich gut erhaltene Geräte dabei, von den verrückten Konstruktionen aus der Frühzeit dieser Technik ganz zu schweigen.

Eine der ersten Maschinen, die mein Vater nach Hause schleppte, war eine Adler 7. Das war eine Schreibmaschine, die auch für das ungeübte Auge von heute einwandfrei als solche zu erkennen ist, mit Tasten, mit Walze und sichtbarem Anschlag (das war nicht selbstverständlich für Maschinen aus den Jahren 1880-1900).

Die Maschine ist so präsent in meiner Erinnerung, dass ich bei der Redensart „Adler-Suchsystem“ immer automatisch an diese Maschine denken musste. Umso größer war mein Unverständnis, warum das Suchsystem bei dieser Maschine so ungewöhnlich sein sollte. Sah doch ganz normal aus, das Ding. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man bei dieser Maschine ein spezielles Suchsystem brauchte; anders als beispielsweise bei der Mignon oder Odell.

Dass andere Leute als solche Büromaschinen-Geeks wie mein Vater (und — notgedrungen — seine Familie) möglicherweise gar nicht wissen, dass es eine Schreibmaschine mit diesem Namen gab, ist mir nie aufgegangen. Als Kind nimmt man halt eine ganze Menge skurriler Dinge als gegeben hin, wenn sie zu Hause passieren.

Sie verstand nichts von Mode (Zivildienst II)

Auf einer der Essen-auf-Rädern Touren, mit denen ich als Zivi meine Vormittage verbrachte, hatten wir eine Kundin, die so blind war, dass wir Zivis gehalten waren, ihr die Aluminiumschale mit dem Essen zu öffnen und das Fleisch zu schneiden. Die Blindheit dieser Kundin wurde von Zivigeneration zu Zivigeneration kolportiert und selbst die zynischsten Kollegen haben dieser Kundin nicht das Essen versalzen (buchstäblich!), da man vor ihrer Sehbehinderung zu großen Respekt hatte.

Umso verdutzter war ich an dem einen Tag, als ich — es waren die frühen Neunziger Jahre — die Basecap mit dem Schirm nach hinten trug (jaja, ich weiß…) und sie mir mit ihrer krähenden Ömchen-Stimme den freundlichen Hinweis gab:

Junger Mann, Sie haben Ihre Mütze falschrum auf.

Das mit der Blindheit habe ich ihr danach nicht mehr abgenommen.