Irgendwann, wenn ich vor dem jüngsten Gericht stehen werde, oder vor sonst einer Instanz, die darüber entscheidet, ob ich in meinem Leben zu etwas nütze war, werde ich sicherlich den Vorwurf zu hören bekommen, dass ich derjenige war, der in geradezu Orwell’scher Manier Personen verschwinden ließ, zu Unpersonen erklärte, jede Erinnerung tilgte. Einfach weg. Dann werde ich mich vor innerem Schmerz auf den Boden werfen, um Gnade flehen und schwach argumentieren, dass es wirklich nicht fein ist, diese schon längst verjährte Episode wieder aufzuwärmen, zumal ich deswegen über Jahre ein schlechtes Gewissen hatte (und habe).
Ich habe vor 17 Jahren die Fotos einiger Mitschüler in der Abi-Zeitung vergessen.
Mann, was war das viel Arbeit damals. Etwas leichtfertig hatte ich mich bereit erklärt, neben der redaktionellen Leitung auch noch die technische Produktion zu übernehmen. Ich kannte mich ja mit Computern gut aus, wie es damals hieß. Das war zu einer Zeit, in der technische Versiertheit auch für inhaltliches Können stand. Wer mit einer Textverarbeitung umgehen konnte, war prädestiniert, auch die Texte zu schreiben, egal ob guter Autor oder nicht. Jedenfalls hatte ich damals Spaß an dieser Sache und außerdem jemanden in der Hinterhand, der dabei helfen konnte. Das sollte mir die Gelegenheit geben, die Freundschaft zur D. wieder aufleben zu lassen, die etwas eingeschlafen war, und vielleicht würde ich an dem einen Nachmittag, den wir zusammen an der Zeitung arbeiten würden, auch ihr Herz für mich entflammen lassen. Im Nachhinein betrachtet eine komische Vorstellung, sie dadurch gewinnen zu wollen, dass ich ihr Arbeit aufhalste, als ob sie in ihrer Ausbildung in der Werbeagentur nicht schon genug Arbeit hatte.
Aus dem einen Nachmittag wurde eine knappe Woche, die wir vor diesem seltsamen Rechner mit diesem Apfel drauf, mit dem großen Monitor, dem Scanner, dem Laserdrucker und dem unglaublichen high-tech Syquest-Wechselplattenlaufwerk saßen. Und saßen. Und saßen. Bis wir nicht mehr gerade gucken konnten vor Müdigkeit.
In einem dieser Momente geschah es, dass der entscheidende Schritt in der — wie ich heute sage — Qualitätssicherung fehlte: Die Probe, ob alle eingescannten Fotos auch in der Zeitung auftauchten. Taten. Sie. Nicht. Vier fehlten.
Vier Gesichter waren lang, als die Zeitung am Abend der Vergabe der Abiturzeugnisse verkauft wurde und die Mitschüler eifrig blätterten, um zu sehen, auf welcher Seite sie abgebildet waren. Ich hatte sie einfach vergessen — obwohl in der Zeitung noch Platz war und wir eine Seite mit Quatsch gefüllt hatten.
Leute, Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie ich damals gelitten habe. So zerfressen vor Schuld war ich, dass ich unmittelbar nach den Feierlichkeiten ein Einlegeblatt zur Zeitung mit den Fotos erstellt und auf eigene Kosten an alle Mitschüler versandt habe.
Noch Jahre danach kriegte ich Schweißausbrüche, wenn ich jemanden aus dem Jahrgang auf der Straße traf und meine erste Überlegung war: Auf welcher Seite ist das Foto?
Mittlerweile ist ein wenig Gras über die Sache gewachsen, ich habe meinen Frieden mit der Welt gefunden, sodass ich darüber schreiben kann. Doch spätestens, wenn in drei Jahren das zwanzigjährige Abiturjubiläum ins Haus steht und ich aus dem Keller der Mutter den Karton mit den Restexemplaren fischen werde, werde ich sehen, dass ich keine Einlegeblätter mit den verlorenen Fotos mehr habe. Und ich werde wieder Schuldgefühle haben. Und ich hoffe, dass die vier Vergessenen Gnade walten lassen.