Archive for the 'Schwänke aus der Jugend' Category

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Ich habe Jabba the Hutt gefüttert (Zivildienst I)

Im allgemeinen bin ich als Zivildienstleistender mit meinen Klientinnen gut zurecht gekommen. Viel Berührungspunkte hat man ja nicht, wenn man nur einmal die Woche zum Einkaufen vorbei kommt, aber meistens habe ich es genossen, mich noch ein wenig zu den alten Damen (und dem vereinzelten Herrn) zu setzen und noch einen Plausch zu halten. Einige hatten ein paar interessante Geschichten zu erzählen, die auch beim vierten Hören noch interessant waren.

Es gab aber auch unangenehme Exemplare, wie die Frau W., die allein in ihrer kleinen Wohnung im dritten Stock an einer vielbefahrenen Straße mitten in Düsseldorf-Flingern wohnte. Frau W. war so unmäßig fett, dass sie aussah wie Jabba, nur dass der Palast kleiner war, es keine Tänzerinnen gab und vor allem — zum Glück — kein Monster im Keller, das auf abtrünnige Bedienstete abgerichtet war. Aber ansonsten war die Ähnlichkeit furchterregend.

Frau W. musste zum Erhalt ihrer Leibesfülle Unmengen von Lebensmitteln in sich reinstopfen. Die durfte ich Dienstags nachmittags zu ihr bringen: Zuerst in den dritten Stock hoch, um einen so großen Einkaufszettel abzuholen, dass für den allein drei Bäume gestorben waren. Dann mit meinem Dienstwagen zu PLUS. Das Geld für den Einkauf fuhr mir schwer bewacht im Geldtransporter hinterher. Am Supermarkt angekommen, begrüßten mich der Filalleiter und der Regionalleiter per Handschlag. Ich war bekannt in dem Laden. Ich hatte eine PLUS Frequent-Buyer Card aus hochreinem Platin mit Diamantbesatz, auf dem Jahrestreffen der Filialleiter gab es 17 Minuten Applaus bei meinem Gastauftritt.

Ich gebe zu, dass der letzte Absatz die eine oder andere Überteibung birgt, aber der erste Satz mit der Leibesfülle stimmt. Ein randvoller Einkaufswagen für eine allein lebende Person ist eine ganze Menge. Und immer die Spezialwünsche: „Ach, Alexander, bringen Sie doch diesmal eine Beinscheibe mit“. Jede Woche habe ich um die drei Kartons Lebensmittel hochgeschleppt, immer in der Angst, dass ich einen fetten Strafzettel kriege, da vor der Tür absolutes Halteverbot war. Die Einkäufe meiner Mutter für unseren sechsköpfigen Haushalt kamen mir nicht größer vor als meine Einkäufe für Frau W.

„Ach, Alexander, dann noch sechs Piccolo und ein paar von den leckerschmecker-Fläschchen an der Kasse.“ Ihr Alkoholproblem wurde schnell offensichtlich, auch wenn sie versuchte, es mit der „Arzt — Kreislauf — Sekt“-Nummer zu kaschieren. Ich war zwar noch grün hinter den Ohren, aber der übermäßige Alkoholkonsum war sehr eindeutig.

Insgesamt hätten mich die eineeinhalb Stunden einmal pro Woche nicht weiter gestört, wenn Frau W. nicht eine grundsätzlich unangenehme Person gewesen wäre. Die Wohnung stank gegen den Wind nach alter Frau (Zivi-Erkenntnis: Alte Männer riechen muffig, alte Frauen riechen beißend). Die rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Pamphlete an der Pinwand versuchte ich zu ignorieren und auf einen Vertreibungsfolgeschaden zu schieben. Doch leider sah Frau W. in mir auch den idealen Schwiegersohn und schwärmte mir in höchsten Tönen von ihrer Enkelin vor und erkundigte sich immer danach, ob ich noch single sei. Eines Dienstags war sie nicht allein, sondern hatte die Enkelin dabei, die ca. sechzehnjährig ein „I like the Pope, the Pope smokes dope“ T-Shirt trug. Wir schauten uns kurz in die Augen und waren uns schnell klar, dass wir nicht füreinander geschaffen waren.

Vollkommen traumatisierend war der Tag, an dem sie mich unten auf der Straße abfing (sie konnte die Wohnung also doch verlassen! Ha!) und mir verkündete, dass sie mich heute zum Essen einladen wollte. Es war Mai, es war warm, sie erinnerte ausschließlich farblich an eine Persil-Werbung aus den Zwanziger Jahren: Blütenweiß war ihre Kleidung. Bis sie in dem Ausflugslokal im Grafenberger Wald den Fisch mit Tomatensoße bestellte. Ihre Finger waren so verfettet, dass sie nur sehr ungeschickt mit Messer und Gabel umgehen konnte und mehr oder weniger mit den Fingern aß. Ich hoffe, niemand hat gedacht, dass ich sie erstechen wollte, so rotbeschmiert, wie sie nach dem Essen war. Nie wieder war sich seitdem in dem Restaurant, in der Furcht, dass man mich wiedererkennen würde.

Zum Abschied meiner Dienstzeit bot sie mir noch an, ich könne ja mal mit ihr und ihrer Familie in der alten Heimat im Erzgebirge Urlaub machen. Ich lehnte dankend ab. Ebenso, wie ich dankend ablehnte, als sie mich um meine Adresse bat, damit sie mir mal schreiben könnte. Es gibt Beziehungen im Leben, die man einfach so abbrechen muss.

Angewandter Machiavellismus

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Seit über zwanzig Jahren spielen wir dieses Spiel: ein Brettspiel, das ich 1986 bei meinem Cousin in Österreich kennenlernte und mir nach der Rückkehr aus den Sommerferien dort sofort selbst kaufte. Machiavelli heißt das Strategiespiel, es versetzt bis zu acht Spieler in das Italien der Renaissance. Als Schüler haben wir uns zweimal die Woche getroffen, um stundenlang kleine Armee-Märkchen kreuz und quer durch Italien zu verschieben, Verteidigungsketten aufzubauen und trotz fester Absprachen den besten Freunden hinterrücks in die Hauptstadt einzufallen.

Als Zivis und Studenten waren wir ein wenig zu weit auseinander, um das so regelmäßig fortzführen. Seit aber alle aus der Fünferrunde bis auf mich wieder in Düsseldorf wohnen, treffen wir uns reihum alle drei bis vier Monate zu einer Partie. Das sieht dann ungefähr so aus, dass wir uns einen Samstag lang einschließen, mit viel Bier und Leckereien bewaffnet irgendwas zwischen vier und acht Stunden an einer Partie sitzen und — wenn es zu schnell ging — noch eine zweite Dranhängen. Sähe uns ein Unbeteiligter, könnte er der Auffassung sein, dass die Körper dieser gestandenen Mittdreißiger für die Dauer eines Tages von Sechzehnjährigen befallen worden sind. Lediglich das Bier vertragen wir besser als Ende der Achtziger Jahre. Es gibt kaum eine bessere Verjüngungskur als dieses Spiel: Einfach mal zwanzig Jahre von sich abfallen lassen.

Morgen bin ich mal wieder an der Reihe, das Spiel auszurichten. Die Horden aus dem Rheinland erwarte ich gegen 22 Uhr heute abend, bin gespannt, in welchem Zustand sie hier auflaufen. Ich bin vorbereitet: Die Wohnung ist geputzt, der Kühlschrank ist aufgefüllt, ich müsste nur langsam anfangen, Bier zu trinken, um den Niveauunterschied nicht so eklatant ausfallen zu lassen.

Freue mich diebisch.

Nachtrag 1: Die anderen sind der Meinung, dass wir das Bier damals besser vertragen haben als heute.

Nachtrag 2: Leider ist einer der Mitspieler aus der Originalbesetzung nicht mehr dabei, aber es wäre auch ein wenig zuviel verlangt, wenn er dreimal im Jahr aus Neuseeland nach Hause käme…

Kamera, Regie und Schnitt: Alexander

Und wenn Sie diesen Hebel ziehen, setzen Sie die Zeitmaschine in Betrieb.

Diese Zeitmaschine liegt nun vor mir, in Form von vier DVDs, die der jüngste Bruder freundlichweise letztens von VHS auf ein für mich nutzbares Medium konvertiert hat. Inhalt dieser DVDs sind ca. neun Stunden Filmmaterial, das ich im März und April 1990 bei einer Studienfahrt mit meiner Schule nach Botswana aufgenommen habe. 17 Jahre lang lagen die Videocassetten herum, seit ca. 1991 habe ich sie nicht mehr angesehen. Das ist echt ein Erlebnis.

Wir waren ca. 10 Schüler damals, die im Rahmen einer Entwicklungshilfe-AG (damals hieß AG automatisch noch „Arbeitsgemeinschaft“, nicht — wie heute — „Aktiengesellschaft“) für drei Wochen ins südliche Afrika reisten, um ein von uns unterstütztes Projekt zu besuchen. Ich hatte die damals top-moderne Videokamera der Schule dabei (eine kleine Kamera, die mit einem Videorecorder verbunden war, den man an einem Tragegurt schulterte. Ja, VHS Cassetten, die großen. Ja, war scheiß-schwer, das Ding) und war gehalten, die Reise zu dokumentieren. Neun Stunden Material sind dabei rausgekommen. Endlose Schwenks über die afrikanische Steppe, Zoom-rein und zoom-out Orgien ohne Rücksicht auf spätere Betrachtbarkeit. Was war ich für ein schlechter Kameramann…

Mann, bin ich alt geworden. Und die ganzen Freunde von damals auch. Ich bin ja nicht so home movie-erfahren, bei uns in der Familie wurde damals noch nicht viel gefilmt, sodass meine Kindheit und Jugend hauptsächlich auf Fotos festgehalten ist. Es ist aber ein himmelweiter Unterschied, ob man nur ein statisches Foto ansieht, sondern auch ein wenig Bewegung und Ton dabei hat. Binsenweisheit, schon klar. Aber die Erfahrung am eigenen Leib ist nicht zu verachten.

Nun überlege ich, was mit dem neu gefundenen Schatz zu tun ist. Gerne würde ich ja etwas zusammenschneiden und ein kurzes Feature erstellen. Ist aber gar nicht so einfach. Erstmal die DVDs wieder in ein nutzbares Format bringen (kennt jemand außer DVDxDV ein günstiges Mittel?), dann mit iMovie schneiden. Habe nach den ersten Experimenten fest gestellt, dass es einen Grund gibt, weswegen Mediengestaltung ein Ausbildungsberuf ist. Das lernt man nicht so eben im Vorbeigehen.

Die Bescheuerten Kinder wollten mich verkloppen

Es war mal wieder Party bei den Bescheuerten Kindern in der Wohngruppe des ib, direkt neben der WG der Freundin, wo wir versuchten, uns nachts von unserem anstrengenden Studentenleben zu erholen.

Dieses Mal war es nicht nur ein einsamer Radiowecker, den ich Wochen zuvor schon mit einem beherzten Griff in den Sicherungskasten zum Schweigen gebracht hatte, sondern ein ausgelassenes Fest. Mit lauter Musik und Jungs voller Testosteron. An Schlaf war mal wieder nicht zu denken. Was tun? Polizei rufen? Ach, das kann man doch auch direkt regeln, dachte ich mir. Zivilcourage olé!

Ich zog mich an, schnappte mir den Hausschlüssel (er passte auch für das Nebenhaus: derselbe Vermieter, dieselbe Schließanlage) und kletterte vier Etagen hinab und im Nebenhaus vier Stufen hinauf. Vor der Tür, die ob des Schalldrucks von innen schon Wölbungen hatte, atmete ich dreimal tief durch und klingelte.

Die Musik wurde marginal leiser, die Tür öffnete sich und ich blickte in eine Schar Gesichter, alle so zwischen fünfzehn und achtzehn. Ich begann das Problem zu schildern: Musik sehr laut, Freundin macht Examen, muss früh raus, yadda yadda yadda. Zum Glück stand derjenige mit einem Funken Restvernunft direkt vorne und versprach, man werde die Musik jetzt leiser machen. Doch bevor wir zu einem guten Abschluss kamen („Ihr seid cool, wird sind cool, wir gehen jetzt alle schlafen“), kam erneut Aufregung in die Szene:

Was will der? Was will der?

schrie der halbstärkste der Bande aus dem Hintergrund, in der Hand etwas, das aussah wie…

Ist das ein Baseballschläger? OK, ich bin raus

stellte ich kühl panisch fest und rannte die vier Stockwerke hinab und auf der anderen Seite wieder hinauf. Soviel zur Zivilcourage, aber hier kam ich mit Diplomatie nicht weiter. Diesmal riefen wir die Polizei, keine Frage. Allerdings war uns sehr mulmig. Die Bescheuerten Kinder wussten ja, wo wir waren. Die würden bestimmt kommen, uns in der Nacht meucheln. Als es später im Treppenhaus einen irre lauten Knall gab, entschieden wir uns — beseelt von Panik — um vier Uhr morgens, das Bett zu wechseln, schwangen uns auf die Fahrräder und fuhren die eineinhalb Kilometer zu mir.

Epilog

Erstens: OK, es war unfair, selbst Panik zu schieben und abzuhauen, die drei Mitbewohner aber einfach schlafen zu lassen. Tschuldi.

Zweitens: Die Sozialarbeiter in der Geschäftsstelle des ib (ebenfalls bei der Freundin im Haus) waren am nächsten Tag sehr bestürzt, hatten aber selbst viel zu tun, da man mitten in der Nacht die halbe Eingangstür weggetreten hat, um die Kaffeekasse des Büros zu klauen.

Intellektueller Schiffbruch

Bei dieser extrem geistreichen Philosophie- und andere Schlauefächer-Studentenparty in der Freiburger Wohnung eines alten Schulfreunds diskutierte man über Literatur, als einer der Anwesenden die Frage stellte:

Kennt Ihr Hildesheimer?

Es musste sich, das gebat der Kontext, um einen Schriftsteller, Dichter oder Denker handeln. Die Stimmung der Party und die Art der Frage ließen kein einfaches „nein“ zu, wollte ich in diesem Kreis doch nicht als der Banausenschulfreund des Gastgebers gelten. Allerdings wäre einfaches Schweigen auch ein Zeichen der Ignoranz gewesen. Besser einen Kalauer reißen, als zugeben, dass ich davon im Leben noch nichts gehört habe:

Meine Freundin kommt aus Hildesheim.

Bin mir nicht sicher, ob man mit mir oder über mich gelacht hat.

Der Duft von Einklebebildern

Eine der ersten Sachen, für die ich verhältnismäßig viel Geld ausgegeben habe, waren Panini Klebebilder für Sammelalben: Star Wars, Elliott das Schmunzelmonster, Flash Gordon und natürlich Fußball. Die Saison 1980/81 war es, in der ich auf einmal den unvorstellbaren Betrag von 10 DM ausgegeben habe, um vierzig Tütchen (40! in Worten: vierzig!) Tüten Einklebebilder an dem Büdchen an der Straßenbahnhaltestelle zu kaufen. Am Stück. Ich weiß noch genau, wie ich den grünen Teppich in meinem Zimmer mit einem gigantischen Mosaik aus Fußballervisagen belegt habe, um sie genauestens zu sortieren.

Doch der Jäger- und Sammlerdrang war nur zweitrangig. Im Nachhinein erkenne ich, dass die Motivation, endlich dieses verfickte Bayernwappen zu kriegen die Sammlung zu komplettieren, nur vorgeschoben war. Ich war ein Junkie. Es waren nicht die Bilder, die mich trieben, sondern ihr Geruch. Vielleicht waren es auch gar nicht die Bilder, die den Geruch verströmten, sondern die Luft, die aus dem kleinen Büdchen strömte, in dem Frau T. saß und einerseits den Alkoholikern von der Haltestelle den Schnaps verdealte und andererseits über die Panini-Bilder die nächste Generation von Süchtigen heranzog. Dieser leicht muffige Geruch von bedrucktem Papier und zu alt gewordenen Süßigkeiten, gemischt mit dem Hauch von Lösungsmittel im Kleber der Panini Bilder.

Am Dienstag traf es mich wieder, als ich in der U-Bahn Hallerstraße den Kiosk aufsuchte, um kurz vor dem Spanischkurs meinen Blutzuckerspiegel mit einem Schokoriegel zu stabilisieren. Es traf mich, wie einen nur Gerüche treffen können: Mit einem Vorschlaghammer direkt auf das Erinnerungszentrum im Gehirn. Da war er wieder, der Drang. Doch ich konnte wiederstehen, habe keine Klebebilder gekauft. Gut, dass die WM vorbei ist; gut, dass ich im letzten Jahr nicht rückfällig geworden bin.

Selbsthilfe auf Kosten der Tiefkühlpizza

Im Haus neben der WG der damaligen Freundin war auf derselben Etage eine Wohngruppe der Internationalen Bundes (ib) untergebracht. Bei uns heiß diese Wohngruppe schon sehr schnell nur noch die Bescheurten Kinder (BK, Digger Alder!), spätestens aber seit der Nacht, als nachts um drei in der Nebenwohnung ein Radiowecker anging — auf voller Lautstärke, aber ohne, dass jemand davon geweckt werden wollte. Die einzigen, die geweckt wurden, waren die Freundin und ich. Und zwar nicht zu knapp. Es war eine laue Sommernacht: nicht nur wir hatten das Fenster geöffnet, auch in der verlassenen Nachbarwohnung hatte man die Fenster offengelassen. Die Hoffnung, dass das nur ein kurzer Schreck war und jemand bald das Radio abstelle, zerstreute sich nach zehn Minuten. Das Fenster zu schließen brachte auch nichts.

So packte ich meinen ganzen Mut zusammen, zog mich an und ging mit dem Hausschlüssel ins Nachbarhaus, in der Hoffnung, in der Wohnung doch jemanden wachklingeln zu können. Der Hausschlüssel passte auch auf das Nebenhaus; die Häuser gehörten demselben Vermieter.

Vier Treppen runter, auf der Straße nach nebenan, aufgeschlossen und vier Treppen wieder hoch. Oben angekommen, machte natürlich niemand die Tür auf — es war ja auch keiner da. Bei dem irren Krach, der von dem Radiowecker ausging, hätte dort auch niemand mehr sein können. Etwas hilflos überlegte ich, was nun zu tun sei, an Schlaf war nicht zu denken und noch eine Dreiviertelstunde zu warten, auf dass der Wecker dann von allein ausging, wollte ich uns auch nicht zumuten.

Die Lösung war einfach greifbar: Aus unerfindlichen Gründen befindet sich der Sicherungskasten nicht innerhalb der Wohnung, sondern im Treppenhaus. Kurze Skrupel ob des Kühlschrankinhalts waren schnell beiseite gewischt, ein beherzter Griff auf alle Kippschalter und *klack* war Ruhe. Ruhe, so sanft wie die feinste Pfirsichhaut der Süßen, die im Nebenhaus meiner Wiederkehr harrte. Ich bestieg meinen Schimmel, ritt wieder rüber ins Bett und konnte eine kleine Kerbe in mein Skurrilitätenhölzchen machen.

Die Schlüsselgleichheit kam uns hier ganz gelegen — Monate später sollte es nicht ganz so gimpflich abgehen. Aber davon erzähle ich ein anderes Mal.

Gerettet durch einen Rechtsanwalt

Ich hatte nicht viel vor an diesem Tag: am späten Vormittag zur Kontrolle bei der Zahnärztin, mittags war ich in der Mensa verabredet. Es waren Semesterferien. Gute Gelegenheit, mal wieder auszuschlafen und sich vom anstrengenden Studium zu erholen.

Die Freundin hatte es nicht so gut, sie musste früh raus, in den Knast. Nicht wegen eigener Vergehen, sondern mit dem Anwalt, bei dem sie ein Praktikum machte, einen Klienten besuchen. Das war wohl einer der Momente im Jurastudium, in denen es ein wenig lebendiger zugeht. Leider aber auch morgens etwas zeitiger als für mich, den bummeligen Geisteswissenschaftler.

Wir hatten bei ihr übernachtet, in der WG, die sie mit drei anderen teilte. Freundlicherweise durfte ich noch ein wenig liegen bleiben, um nicht vor dem Zahnarztbesuch nochmal für eine Stunde nach Hause fahren zu müssen. Ich stand etwas später auf, putzte mir schnell die Zähne und wollte mich aus dem Staub machen, stellte aber fest, dass die Wohnungstür verschlossen war. Dreck. Die Mitbewohner. Sie wussten nicht, dass ich noch da war, waren gegangen und hatten die Tür abgeschlossen. Die Freundin und ich waren zwar dicke miteinander, doch wegen eines Vetos der Mitbewohner hatte ich keinen eigenen Schlüssel für die Wohnung. Ich war eingesperrt.

Schicksal. Ich begann, mich auf einen langen Tag allein einzurichten. Als erstes rief ich bei der Zahnärztin an und sagte den Termin ab. Nicht ohne Gelächter der Arzthelferin, als sie von meinem Unglück erfuhr. Danach rief ich in der Anwaltskanzlei an, doch die Freundin und der Anwalt waren schon unterwegs auf dem Weg in der Justizvollzugsanstalt. Man gab mir aber aufgrund der prekären Lage die Mobilnummer des Anwalts. Den kriegte ich glücklicherweise auch direkt an die Strippe. Er war kurz angebunden, reichte mich aber an die Freundin weiter. Auch sie hörte sich die Geschichte an, sagte, dass sie da auch nichts machen könne und ich solle mir einen schönen Tag machen.

Ich tat wie mir geheißen. Erstmal unter die Dusche. Während ich mich einseifte, klingelte es heftig an der Tür. Ich nahm es mit einem Schulterzucken hin, konnte ja ohnehin nicht aufmachen. Doch es klingelte häufig und heftig. Ein paar Minuten später klopfte es an der Tür. Mittlerweile leicht mit einem Handtuch bekleidet, fragte ich nach dem Begehr des Besuchers:

Schlüsseldienst! Ich mach Ihnen die Tür auf und tausche das Schloss aus!

Aber… aber… aber…

Kaum dass ich mich versah, war die Tür offen, der Mann vom Schlüsseldienst grinste mich an, drückte mir einen neuen Satz Schlüssel in die Hand und verabschiedete sich freundlich. Meine gestammelte Frage, wer ihn denn beauftragt habe, beantwirtete er bereits im Trepperuntergehen:

Der Rechtsanwalt!

Sprach’s und war verschwunden. Ich war befreit! Vermutlich selten habe ich so dämlich aus der spärlichen Wäsche geschaut. Ich war ein freier Mann, konnte gehen und die Wohnung hinter mir lassen!

Nicht ganz. Schließlich hatte sich das Spiel gewendet. War ich vorher noch der einzige ohne Schlüssel, war ich nun der einzige mit Schlüssel für die Wohnung. Weder die Freundin, noch die Mitbewohner hätten die Chance, in die Wohnung reinzukommen, wenn ich nun gehen würde. Das alte Schloss war ausgebaut, deren Schlüssel wertlos.

Ungefähr so wertlos wie meine just wieder erlangte Freiheit. Dreck verdammter. Es war ungefähr das Jahr 1996, es hatte auch noch nicht jeder Student ein Mobiltelefon, sodass ich niemanden der Betroffenen hätte erreichen können.

Aus der Affäre rettete ich mich schließlich, indem ich die neuen Schlüssel in den Briefkasten der WG warf (mit einem erklärenden Briefchen) und einen Zettel an der Wohnungstür im fünften Stock befestigte, dass man doch bei der Rückkehr bitte in den Briefkasten schauen solle. Das half. Nun war ich wirklich frei.

Epilog

Weder die Mitbewohner noch die Hausverwaltung fanden diese Geschichte besonders komisch. Die Mitbewohner waren aber ohnehin sehr spaßbefreit, daher machte mir das nicht viel. Umso mehr Spaß hatte der Anwalt. Nachdem die Freundin ihm das Malheur nämlich berichtet hatte, lachte er sich krumm und erinnerte sich daran, dass ihm der Schlüsseldienst noch einen Gefallen schuldete. Ich weiß nicht mehr, ob der Anwalt Ärger bekommen hat, weil er ein Mobiltelefon mit ins Gefängnis genommen hatte. Das ist verboten, war mir aber an diesem Tag sehr recht.

Noch eine üble Abfuhr

Auf einem Ausflugsschiff im Doubtful Sound. Ich stand an Deck, ließ mir den Wind um die Nase pfeifen und versuchte, ein wenig Konversation mit der Amerikanerin neben mir zu treiben. Ich sprach sie an, sie sah seltsam gekränkt zurück und sagte:

„I’m going downstairs. Don’t follow.“

Blöde Kuh.

Üble Abfuhr (selbst geflochtener, unverlangter Korb)

Ganz furchtbar ist der Tag, an dem man das erste Mal von jüngeren Leuten aus der eigenen Peer-Group gesiezt wird. Man möchte am liebsten sofort das nächstgelegenste Seniorenheim um Asyl bitten, zumindest aber zum Arzt rennen, um mit Vorsorgeuntersuchungen anzufangen, so alt kommt man sich dabei vor. Wenn dieses erste Gesiezt werden auch noch in einer Studentenkneipe passiert, kann einen das ganz schön verstören. Sollte das ganze auch noch — um noch einen drauf zu setzen — in einen Korb münden, denkt man an Spontansuizid. Wem das passiert ist? Ratet mal!

Georg und ich saßen im städtisch geförderten Veranstaltungszentrum unserer Universitätsstadt. Ja, genau, diesem Mischding aus Kneipe, Kulturhaus und Programmkino, das es überall gibt, wo es auch Rollenspielgruppen und lateinamerikanische Kulturvereine gibt. In unserem Fall war es die „Lagerhalle“ in Osnabrück. Es war ein Abend, wie wir sie 1998/99 reichlich hatten: Wir tranken unsere Weizenbiere und erfreuten uns an den umherlaufenden jungen Damen. Die kleine rothaarige Kellnerin, die ich schon häufig mittags in der Mensa gesehen hatte, kam auf uns zu und stellte die böse, böse Frage:

Möchten Sie beide auch noch etwas trinken?

Das war’s. Nichts würde mehr so sein wie vorher. Die kleine rothaarige Kellnerin hatte mich gesiezt. Wie ein Vorschlaghammer vor den vorderen Hirnlappen traf mich die Anrede im Plural der Dritten Person. Ich war so konsterniert, das mein Artikulator leichte Aussätze zeigte und ich wohl etwas undeutlich fragte:

Siezt Du mich auch in der Mensa?

Nur dass alle Anwesenden (Georg und — vor allem — die kleine rothaarige Kellnerin) verstanden haben:

Siehst Du mich auch in der Mensa?

Zuerst verstand ich nicht, warum Georg auf einmal mit offenem Mund dasaß und mich anschaute, als hätte ich gerade versucht, die kleine rothaarige Kellnerin anzugraben — obwohl ich doch noch in den besten Händen war, damals. Es dämmerte mir, doch der Satz war gesagt und sie hatte mich auch falsch verstanden.

Sie war ebenfalls verblüfft. Fragte zurück:

Studierst Du auch?

Puh, da war es wieder, das „Du“. Immerhin. Nichtsdestotrotz ging von da an alles den Bach runter:

Ja, Computerlinguistik.

Antwortete ich, in der vagen Hoffnung, noch etwas retten zu können. Doch das war müßig, das Urteil war gefallen:

Bäh!

sagte sie und verschwand.

Ich habe die kleine rothaarige Kellnerin danach natürlich noch häufig in der Mensa gesehen. Sie mich vermutlich auch. Doch nie hat sie ein freundliches Zeichen der Wiedererkennung von sich gegeben.

Irgendwann verließ ich die Stadt.