Eine der liebsten und skurrilsten Personen, die ich während des Zivildienstes kennengelernt habe, war Frau M. Sie lebte alleinstehend in einer größeren Wohnung in der Nähe der Dienststelle in Düsseldorf-Flingern. Frau M. wurde ab und an von den Schwestern der Sozialstation betreut, kam aber im allgemeinen allein ganz gut zurecht. Dennoch beauftragte man mich, einmal die Woche bei Frau M. zum Einkaufen vorbeizufahren, da den Kolleginnen Frau M. nicht ganz geheuer war.
Frau M. lebte ohne Strom und Heizung. Nicht, weil sie sich diese Dinge nicht hätte leisten können, sondern, weil sie auch ohne ganz glücklich war. Sie war zugegebenermaßen etwas exzentrisch, wie sie mit schlohweißem Haar und wenig Zähnen — aber immer im Mantel — in ihrer Wohnung herumlief und regelmäßig im Schülerduden Mathematik schmökerte.
Ich war ganz gerne bei ihr, nur leider — das war wirklich unangenehm — roch es in der Wohnung beißend nach alter Frau und nach Kerzenwachs. Weder Frau noch Wohnung machten einen verwahrlosten Eindruck. Der Geruch nach Kerzenwachs rührte aus der Küche, wo Frau M. im Spülbecken eine beachtliche Menge Kerzen aufgebaut hatte, auf denen sie ihr Essen zubereitete. Dass sie bei den Temperaturen im Winter 1991/92 nicht ausführlich lüftete, war aus ihrer Sicht auch verständlich.
Es dauerte ein paar Wochen, bis ich merkte, dass die Frau gar nicht so irre war, wie alle meinten. Ich ging normale Dinge für sie einkaufen. OK, sie hatte einen hohen Konsum an Kerzen und Graupen, aber Rätselzeitschriften und das „Echo der Frau“ habe ich für andere Damen auch gekauft. Wie sie die Graupen auf den Kerzen weichgekocht gekriegt hat, war mir ein Rätsel.
Überrascht hat sie mich zu Ostern 1992, als sie mir ein Osterküken schenkte. Eins aus Plastik, mit plüschigem, gelben Fell. Unter den Füßen hatte es zwei Metallkontakte. Berührte man beide, schloss sich eine Stromkreis und das Küken machte Piep-Piep Geräusche. Sie freute sich wie Bolle darüber und ich war tief gerührt. Dieser Kontrast: Eine Frau, die ohne Strom lebte, aber sich diebisch über ein elektronisches Spielzeug freute. Herrlich.

Piep-Piep lebte ein paar Monate in der Brusttasche meiner Jeansjacke. Irgendwann wanderte es in die Kiste mit den Erinnerungsschätzen und in Mutters Keller. Beim mütterlichen Umzug im Mai tauchte es wieder auf: Unverändert gelb, das blaue Schleifchen um den Hals intakt und die Batterien gingen auch nach 15 Jahren noch. Es war ein herzliches Wiedersehen.