Eine weitere Klientin, mit der ich beim Zivildienst auf keinen grünen Zweig gekommen bin, war Frau J.
Für Frau J. bin ich einmal die Woche einkaufen gegangen. An sich war das kein besonders schweres Unterfangen, wenn da nicht ihre herrischen Marotten gewesen wären („Alexander, können Sie nicht mal ein wenig früher kommen, wenn Sie erst um 15 Uhr da sind, dann gibt es so häufig nichts mehr zu kaufen.“, „Alexander, haben Sie auch verschiedene Schwarzbrote gedrückt, um das frischeste zu finden?“). Am schlimmsten war allerdings ihr absurd kompliziertes Verfahren beim Getränkekauf, das sie sich ausgedacht hat, um den Einkauf deutlich zu vereinfachen.
Das Verfahren ging so: Beim Getränkekauf (1 Kasten Wasser) sollte der leere Kasten nicht zurückgegeben werden. Lediglich die leeren Flaschen durfte ich zurückgeben, ich sollte den alten Kasten mit neuen Flaschen auffüllen. Da bei diesem Verfahren statt 6,60 DM nur 3,60 DM ein- und ausgebucht wurden („Die 3 Mark für den Kasten müssen ja nicht auftauchen.“), war es in ihren Augen wesentlich einfacher. Die Realität gestaltete sich anders: Im Supermarkt hatte keiner der Verkäufer an der Kasse Verständnis für solche Sonderlocken. Mit schöner Regelmäßigkeit tauchten die 6,60 DM auf dem Kassenzettel auf. Frau J., die Woche für Woche den Einkaufszettel mit den Zwischensummen versah und hinterher mit dem Kassenzettel verglich, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Warum ich das alles so kompliziert machen müsse?
Im Ergebnis war es ein Teufelskreis: Sie wurde immer verzweifelter ob meiner Unfähigkeit, einen einfachen Einkauf nach Ihren Vorstellungen durchzuführen; ich wurde immer unsicherer und verrechnete mich immer häufiger. Es war deutlich: Sie nahm mich nicht für voll, hielt mich für minderbemittelt und nicht in der Lage, einfache Rechnungen durchzuführen. Irgendwann kriegte sie mehr Wechselgeld zurück, als sie vorausberechnet hatte, was sie mir als Fehler vorhielt. Das war der Tag, an dem wir uns anschrien und sie mir sagte, dass ich nicht mehr wiederzukommen brauchte. Ich war nicht unglücklich darüber, aber meine Chefin sah das anders und nach einer Woche Pause tauchte ich wieder bei Frau J. auf.
An meinem letzten Tag bei ihr erkundigte sich Frau J. zum Abschied, was ich denn in Zukunft machen wollte:
Frau J.: Und, Alexander, was machen Sie nach dem Zivildienst? Gehen Sie wieder zur Schule?
Ich: Och, Frau J., wissen Sie, das brauche ich nicht. Ich habe mein Abitur schon. Mit einem Schnitt im Einserbereich ein gar nicht so schlechtes. Ich gehe nächstes Jahr zur Uni.
Das konnte Frau J. nicht glauben und saß mit offenem Mund da. Dass eine solch ausgemachte Nulpe wie ich Abitur haben sollte? Für Frau J. war an diesem Tag im November 1992 der Pisa-Schock vorweggenommen.
Hihi, das kommt mir alles so bekannt vor. Daher auch an dieser Stelle eine kleine Anekdote aus meiner Zivizeit:
Einen sehr unfreundlichen Herren mussten wir einmal in der Woche zum Supermarkt fahren, da er nicht mehr so gut laufen konnte. Was er allerdings sehr gut konnte: an der Kasse Zigaretten klauen. Wir hatten stets große Mühe, ihm das auszutreiben. Das passte ihm natürlich nicht, was er uns danach stets lautstart zu verstehen gab. Er war ein Scheusal. Täglich mussten wir seiner Frau Tabletten bringen, damit sie nicht alle auf einmal nahm, was in diesem Falle mehr als verständlich gewesen wäre. Jeden Tag mussten wir ihm, da wir schon einmal auf dem Weg waren auch die BILD-Zeitung mitbringen. Er mochte die Nackedeis auf Seite eins und das Kreuzworträtsel. Um uns ein wenig an ihm für seine Unfreundlichkeit zu rächen, lösten wir allerdings das Kreuzworträtsel bereits vor Abgabe der BILD und versicherten stets glaubhaft, dass wir die Zeitung bereits so gekauft hätten.
Ich male mir gerade aus, wie Du als naseweiser Zivi einem weitaus älteren Mann erklärst, dass es sich nicht gehört, Zigaretten zu klauen. Da scheinen mir die durch den Generationenvertrag verteilten Rollen etwas durcheinander geraten.